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Erstellt am 5. Juli 2013

Der Damoklesbaum von Wandsbek

Ein Weihnachtsbaum hängt hoch über den Köpfen der Kundschaft, doch da bleibt er nicht hängen. Und ein Gericht entscheidet, daß er das auch nicht muß.    

Die Geschichte hat sich bereits 2009 zugetragen. In einem Einkaufszentrum in Hamburg-Wandsbek fiel plötzlich die Weihnachtsdekoration von der Decke. Aus der Kuppel über dem Foyer löste sich ein vier Meter großer Weihnachtsbaum und stürzte in die Tiefe. Er traf eine Kundin. Er hätte sie fast erschlagen. Es sollte sechs Wochen dauern, bis die Kundin das Krankenhaus wieder verlassen konnte. Der Staatsanwalt erhob Anklage, und die Anklage lautete auf fahrlässige Körperverletzung.

wandsbek-quarree-zu-weihnachtenNoch hängen die Bäume alle: das Einkaufszentrum ‚Wandsbek Quarree‘ in Hamburg im Dezember 2005 (© J. Dornemann)

Wenn ein vier Meter großer und 190 kg schwerer Weihnachtsbaum nicht da hängen bleibt, wo man ihn hingehängt hat – so jedenfalls sah es der Staatsanwalt –, dann hat man ihn offenbar falsch aufgehängt. Wenn ein Weihnachtsbaum plötzlich von der Decke fällt, dann hat man ihn nicht richtig befestigt. Der Staatsanwalt klagte also diejenigen an, die den Unglücksweihnachtsbaum an der Decke des Einkaufszentrums angebracht hatten: den Geschäftsführer einer Dekorationsfirma und einen bei ihm angestellten Techniker.

Zu einem Schuldspruch aber hat es am Ende nicht gereicht. Dreieinhalb Jahre später ist die Anklage jetzt endlich verhandelt worden, am Amtsgericht Wandsbek, und der Richter hat den Fall anders gesehen.

Wäre der Unfall vermeidbar gewesen? Hätten die Angeklagten vorhersehen können, daß der Baum nicht hängen bleibt? Der Richter hat es verneint. Der Richter ist zu der Auffassung gelangt, daß die Angeklagten eigentlich alles richtig gemacht haben. Die Vorrichtung, die sie zum Aufhängen benutzten, war über Jahre erprobt und bewährt. Ein Elektromotor hielt den Baum in einer langsamen Drehung, und drei Drahtseile sicherten ihn ab. Niemand konnte damit rechnen, daß die Drahtseile etwas tun würden, was sie in den Jahren zuvor noch nie getan hatten – nämlich: sich aneinander reiben, sich gegenseitig aufscheuern und schließlich reißen.1 2

Der Richter hat die Angeklagten freigesprochen. Es gibt Unfälle, die sich auch bei größter Sorgfalt nicht verhüten lassen. Unvorhersehbare Umstände haben sich unglücklich verkettet. Ein Weihnachtsbaum ist auf eine Kundin gefallen, und der Kundin bleibt nicht einmal jemand, den sie dafür verantwortlich machen kann. Juristen sprechen vom sogenannten allgemeinen Lebensrisiko. Es kann einfach mal vorkommen, daß einem in einem deutschen Einkaufszentrum aus zehn Meter Höhe ein 190 kg schwerer Weihnachtsbaum auf dem Kopf fällt.

Mit dem Zeichen 716c C ***/** wurde der Fall zu den Akten gelegt.

  1. Prozess: Dekotanne stürzt auf Frau, Die Welt, 1. Juni 2013 – siehe auch: Weihnachtsbaum stürzt in Einkaufspassage, Weihnachtskatastrophenbuch S. 23 f.
  2. Dino Schröder, Freispruch im Tannenbaum-Prozess, Bild.de, 1. Juli 2013