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Erstellt am 19. Januar 2013

Bethlehem, zwei Jahrtausende später

So hat sich Jesus seinen Geburtstag nicht vorgestellt.

Ausgerechnet in der Geburtskirche in Bethlehem liefern sich einhundert seiner getreuesten Anhänger eine Massenschlägerei.

Sie prügeln sich nicht genau an seinem Geburtstag. Sie sind teils griechisch-orthodox, teils armenisch-apostolisch. Es ist der 28. Dezember 2011, und das eigentliche Geburtstagsfest wird bei ihnen erst im Januar gefeiert. Doch in gewisser Weise gehört die Massenschlägerei schon zu den Vorbereitungen.

Die Beteiligten sind allesamt Geistliche. Sie sind an diesem 28. Dezember zusammengekommen, um die Geburtskirche vor dem Fest noch einmal zu putzen. Oder sagen wir besser: vor den Festen. Sie werden nicht gemeinsam feiern. Sie sind verfeindet. Die Griechisch-Orthodoxen feiern Weihnachten am 7., die Armenisch-Apostolischen am 18. Januar. Sie sind verfeindet, aber sie können einander nicht aus dem Weg gehen. Es gibt nur eine Geburtskirche. Die Geburtskirche steht seit eintausendsiebenhundert Jahren genau über der Stelle, an der Jesus zur Welt gekommen ist. Und sie gehört nun einmal ihnen beiden: der griechisch-orthodoxen Gemeinde ebenso wie der armenisch-apostolischen.


Bethlehem, Geburtskirche, 28. 12. 2011

Die Geistlichen prügeln sich wegen einer Leiter. Die Griechisch-Orthodoxen haben die Leiter beim Putzen verrückt, und das ist ihnen laut Hausordnung verboten. Es ist ihnen schon sehr lange verboten. Die Hausordnung ist Hunderte von Jahren alt; sie wurde erlassen zu Zeiten, als noch die Türken über Palästina und Bethlehem herrschten. Schon damals waren die Griechisch-Orthodoxen und die Armenisch-Apostolischen verfeindet. Die Hausordnung ist eine Art Stillhalteabkommen, das die Türken damals vermittelt haben. Die Türken haben sich bemüht, das Abkommen so genau wie nur möglich zu formulieren. Die Hausordnung enthält Bestimmungen für jeden Altar und jedes Bild und jedes Fenster und jede Tür. Sie enthält, was insbesondere das Putzen angeht, sogar Bestimmungen für jedes einzelne Stück Wand und jedes einzelne Stück Boden. Es gibt in der Geburtskirche armenisch-apostolische Wände und griechisch-orthodoxe. Wer etwas putzt, erklärt es nach altem Recht zu seinem Besitz. Es gibt armenisch-apostolischen Boden, und es gibt griechisch-orthodoxen. Es gibt sogar eine Wand in griechisch-orthodoxem Besitz über Boden, der aber armenisch-apostolisch ist. Und genau an dieser Wand steht beim jährlichen Kirchputz die Leiter, um die es in unserer Schlägerei geht.

Die Türken herrschen schon lange nicht mehr über Bethlehem, ihre Hausordnung aber ist geblieben. Und was die fragliche Wand angeht, so ist die Regelung eigentlich ganz klar: Die Griechisch-Orthodoxen dürfen, um ihre Wand zu putzen, eine Leiter verwenden, und sie dürfen diese Leiter auch auf armenisch-apostolischen Boden stellen. Die Stelle freilich, an der die Leiter zu stehen hat, ist genau bezeichnet. Was die Griechisch-Orthodoxen nicht dürfen, ist: die Leiter an eine andere Stelle verrücken. Sie wissen, daß sie es nicht dürfen. Doch sie sehen es nun einmal nicht ein.

Nach den Türken haben die Engländer über Bethlehem regiert, nach den Engländern die Jordanier, nach den Jordaniern kamen die Israelis und nach den Israelis die Palästinenser. Keinem ist es gelungen, eine bessere Hausordnung auszuhandeln. Ein Kompromißvorschlag der palästinensischen Autonomiebehörde hätte vorgesehen, daß die Griechisch-Orthodoxen die Leiter zwar verrücken dürfen, das jedoch nur genau zwei Mal. Der Vorschlag ist gescheitert. Die Massenschlägerei vom 28. Dezember 2011 wurde dadurch ausgelöst, daß die Griechisch-Orthodoxen es sich nicht nehmen ließen, die Leiter zumindest noch ein drittes Mal zu verrücken.

Und also verhandelt die Autonomiebehörde eben weiter. Und sobald in der Geburtskirche wieder ein Hausputz ansteht, schickt sie Aufseher und Bereitschaftspolizei. Vielleicht ist es ja ein gutes Zeichen, daß die Bereitsschaftspolizei beim diesweihnachtlichen Hausputz nicht einschreiten mußte. Er fand am 2. Januar statt, und er verlief ohne Zwischenfälle (Bildergalerie). Und auch bei den eigentlichen Weihnachtsfeierlichkeiten am 7. und am 18. Januar hat es dann keinerlei Störungen gegeben – es wurden weder griechisch-orthodoxe Gottesdienste durch armenisch-apostolische Geistliche behindert noch umgekehrt. Beide Seiten sind geradezu ungewöhnlich friedlich geblieben, und das die gesamte Weihnachtszeit hindurch.

Vielleicht ist es ein gutes Zeichen, doch darauf wetten möchte man nicht. Die Prügeleien in der Geburtskirche haben mittlerweile eine sehr, sehr lange Tradition. Vielleicht haben beide Seiten auch nur ihre Kräfte geschont. Vielleicht haben sie sie nur für einen anderen Feiertag geschont, oder für einen anderen Kampfplatz. Oft tragen griechisch-orthodoxe und armenisch-apostolische Geistliche ihre Streitigkeiten auch in der Grabeskirche in Jerusalem aus. Die Grabeskirche ist die andere Kirche im Heiligen Land, die sie sich aufgrund uralter Abkommen teilen müssen. In der folgenden Szene aus dem Jahr 2008 zum Beispiel geraten sie deshalb aneinander, weil eine armenisch-apostolische Prozession sich nach Ansicht der Griechisch-Orthodoxen nicht an die Prozessionsregeln gehalten hat:

Jerusalem, Grabeskirche, 9. 11. 2008

– Für diesmal ist es in der Geburtskirche zu Weihnachten friedlich geblieben, doch das besagt nicht unbedingt viel. Die Autonomiebehörde wird auch zum nächsten Hausputz wieder Bereitschaftspolizei schicken. Zwar ist die Sache mit der Leiter inzwischen hoffentlich geklärt, aber die Leiter war ja nur ein Streitpunkt unter vielen. Die Hausordnungen für die Geburtskirche in Bethlehem und für die Grabeskirche in Jerusalem – der sogenannte Status quo – sind lang. Sehr lang. Ein britischer Beamter hat sich im Jahr 1929 einmal die Mühe gemacht, sie in einem vertraulichen Dossier zusammenzufassen. Wer es nachlesen möchte, findet es in einem Buch von Walter Zander aus dem Jahr 1971, Israel and the Holy Places of Christendom, ab Seite 194.